Aus einem Rundbrief von Oliver Krischer, MdB:
Ein von Atomkraftbefürwortern – gerade auch in der aktuellen Debatte um die belgischen AKW Doel und Tihange – benutztes Argument ist die Versorgungssicherheit. Es wird der Eindruck geschürt, mit dem Abschalten wäre die Versorgungssicherheit gefährdet, die Stromnachfrage könnte durch die vorhandenen, nicht-nuklearen Kapazitäten nicht mehr gedeckt werden. Kurzum: Atomkraftbefürworter malen „Blackouts“ an die Wand, wenn AKW abgeschaltet werden.
Das ist Unsinn! Würden alle Atomkraftwerke in Mitteleuropa sofort abgeschaltet, gäbe es keine Blackouts, denn vor allem in Deutschland und den Niederlanden sind große Überkapazitäten an anderer, gesicherter Kraftwerksleistung vorhanden. Hinzu kommen erhebliche Kapazitäten an Wind- und Sonnenergie (in Deutschland inzwischen ein Drittel der Stromversorgung) sowie Speichern und Lastmanagement, die aber wegen ihrer schwankenden Erzeugung bei der zur Verfügung stehenden Kraftwerksleistung faktisch nicht mit gerechnet werden können.
Für die Versorgungssicherheit mit Elektrizität wird ein absolutes Extremszenario zugrunde gelegt: Die Basis ist der Tag der letzten 15 Jahre mit der höchsten Stromnachfrage (meist ein Frosttag im Januar – an den meisten anderen Tagen des Jahres ist der Verbrauch um bis die Hälfte geringer). Dagegen gerechnet werden die sicher zur Verfügung stehenden Kraftwerke. Dabei wird angenommen, dass ein bestimmter Anteil der Kraftwerke wegen Wartung u. ä. nicht zur Verfügung steht. Nicht mitgerechnet werden Kraftwerke die vorläufig stillgelegt sind („Kaltreserve“), aber diese stünden im Bedarfsfall auch zur Verfügung. Außerdem geht man von dem extrem unwahrscheinlichen, aber theoretisch vorstellbaren Fall aus, dass an diesem Tag der Jahreshöchstlast keine einzige der zehntausenden Windenergieanlagen und keine der über 1,5 Mio. PV-Anlagen mangels Wind und Sonne Strom produziert (in den drei Ländern stehen inzwischen über 90 GW Erneuerbare Kapazität zur Verfügung) und dass außerdem alle Speicher leer sind und Kapazitäten zur Lastverschiebung, z. B. in der Industrie nicht zur Verfügung stünden.
Selbst unter dieser absoluten Extrembetrachtung könnten alle AKWs in Belgien, den Niederlanden und Deutschland sofort abgeschaltet werden. Es bleibt nur eine Differenz von etwa 2 GW, die z. B. durch Gaskraftwerke in Kaltreserve leicht und ohne relevanten Kostenaufwand noch geschlossen werden könnte. Das belegen die Zahlen der offiziellen Statistik (ENTSOE):
in GW (Gigawatt) Belgien Niederlande Deutschland SUMME
Jahreshöchstlast 13,46 16,41 87,65 117,52
Kraftwerkskapazität 13,65 24,52 95,48 133,65
Davon Nuklear 5,93 0,49 12,07 18,45
Verbleiben 7,72 24,03 83,41 115,20
Überschuss -5,74 7,62 -4,24 -2,32
Im Alltag (also nicht bei Jahreshöchstlast und mit Stromproduktion aus Wind und Sonne) gibt es riesige Überkapazitäten, das heißt Kraftwerke sind aufgrund von mangelndem Bedarf nicht in Betrieb. Unter den fossilen Energieerzeugungskapazitäten sind Atomkraft und Braunkohle in Deutschland an der europäischen Strombörse EEX am billigsten, weil bei beiden die Folgekosten nicht in den Strompreis eingerechnet werden. Sie verdrängen dort deshalb hochmoderne, flexible und klimafreundliche Gaskraftwerke aus dem Markt – die ein Drittel CO2-ärmer als schmutzige Braunkohlekraftwerke sind. So stehen z. B. in den Niederlanden die Gaskraftwerke Claus C und Moerdijk und in Deutschland die Gaskraftwerke Hürth, Hamm-Uentrop, Herdecke usw. mit einer Leistung von insgesamt mehreren 1000 MW komplett still. Diese Kraftwerke sind zum Teil schon in Kaltreserve und werden zur Versorgungssicherheit (siehe oben) schon gar nicht mehr mitgerechnet. Der Betrieb der Atomkraftwerke ist also nicht erforderlich für die Versorgungssicherheit, er dient allein dem ökonomischen Interesse der jeweiligen Betreiber auf Kosten der Allgemeinheit.
Deshalb fordern wir Grünen die Regierungen von Belgien, Deutschland und den Niederlanden auf, nach Wegen zu suchen, wie mit den vorhanden Kraftwerkskapazitäten die noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke so schnell wie möglich ersetzt werden können. Die Rahmenbedingungen im europäischen Strommarkt müssen darüber hinaus so verändert werden, dass nicht ausgerechnet gefährliche und für die Allgemeinheit teure Atomkraftwerke sowie klimaschädliche Braunkohlekraftwerke auf Kosten der Erneuerbaren Energien und Gaskraftwerke in Kraft-Wärme-Kopplung die Gewinner sind.
Technisch möglich ist das: Über die Landesgrenzen hinweg gibt es derzeit schon einen intensiven Stromaustausch: Zwischen Deutschland und den Niederlanden und zwischen den Niederlanden und Belgien sind schon heute ausreichend Leitungskapazitäten vorhanden. Zusätzlich wird zwischen Belgien und Deutschland in den nächsten zwei bis drei Jahren eine leistungsfähige „Hochspannungsgleichstromübertragungsleitung“ (HGÜ) als Erdkabel realisiert.
Oliver Krischer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag und wohnaft in Düren.